Lesezeit: 4 MinutenDass Videospiele mittlerweile nicht mehr zwangsläufig für Spaß und Heiterkeit sorgen müssen, sollte mittlerweile bekannt sein. Spiele wie Papers, Please oder This War Of Mine projizierten bereits die Schattenseiten der Menschheit auf eine interaktive und somit erlebbare Ebene, die andere Kunstformen in der Art und Weise nicht bedienen können. That Dragon, Cancer liefert uns nun eine weitere, kaum schluckbare Thematik, die aufgrund des Realitätsbezuges noch dramatischer erscheint.
Nachdem der 5-jährige Joel Green nach vier Jahren des Kampfes am 13. März 2014 an Krebs starb, verarbeiten die Eltern Amy und Ryan diesen Schicksalsschlag nun in einem Videospiel. Im November 2014 starteten sie mit Unterstützung von Ouya ein Kickstarter-Projekt, natürlich mit Erfolg. Das Ergebnis lässt sich seit dem 12. Januar 2016 erleben, zumindest wenn man die Nerven dafür hat.
Beobachter eines Dramas
Zugegeben: Die Thematik wirkt abschreckend. Gerade für Eltern scheint der Verlust eines Kindes schon auf dem Papier so unvorstellbar schmerzhaft, dass Viele mit Absicht einen Bogen um „That Dragon, Cancer“ machen. Diesen Eindruck bekomme ich zumindest aus diversen Kommentarbereichen und Unterhaltungen in den sozialen Netzwerken. Dabei fokussiert sich das Projekt kaum auf die Leiden von Joel, sondern die ausformulierten Leiden der Eltern. Als Sprache dient ein minimalistischer Grafikstil aus groben Polygonen und Flächen, der das Wesentliche einzufangen versucht, gepaart mit inneren Monologen und sogar originalen Tonaufnahmen der Familie, sowie Untertitel, die in den Raum projiziert werden. Mit diesen Mitteln werden einzelne Momentaufnahmen zwischen realistischen Begebenheiten und metaphorischen Umschreibungen gezeichnet, die letztendlich unaufhaltsam auf das Unausweichliche zu steuern. „That Dragon, Cancer“ ist demzufolge kein Spiel. Der Spieler kennt das Thema und er kennt den Ausgang und er besitzt keinerlei Möglichkeiten diesen zu ändern oder zu beeinflussen. Das stuft den Spieler auf einen reinen Beobachter herunter, der tief in die Gefühlswelt eines leidenden Elternpaares blicken darf, dessen emotionales Innenleben äußerst privat und ungeschminkt präsentiert wird, was ich im Hinblick auf die Videospielkultur als ziemlich einzigartig empfunden habe. Der Weg ist das Ziel und somit auch das Bewusstsein über dessen gnadenlose Härte. Die Wahl der Darstellung ist dementsprechend stark und wird eindrucksvoll präsentiert, beißt sich jedoch an allen Ecken und Kanten mit der Interaktion.
Passive Interaktion als Randnotiz
Wie steuert man also ein Nicht-Spiel, in dem das „schlechte Ende“ das einzige Ende ist? „That Dragon, Cancer“ ist in seiner Interaktion sehr einschränkend und kontrolliert stets den Blickwinkel des Zuschauers in den jeweiligen Szenen. Die sonst in Videospielen übliche, freie Bewegung im Raum, weicht einem brettspielartigen Rücken von festgelegtem Punkt zu Punkt. Zumindest die Sicht ist von jedem Punkt aus frei, während der Cursor eine Interaktionsmöglichkeit zu erkennen gibt, die keinem festen Konzept folgt, sondern stets an die Situation angepasst ist. Das reicht vom Herumtollen mit Joel auf dem Spielplatz und dem Füttern von Enten, über ein Gespräch mit dem zuständigen Arzt und dem Wechsel in die Gedankenwelt der anwesenden Personen, bis hin zum absurden Absolvieren einer „Mario Kart“-ähnlichen Rennstrecke im Krankenhaus. Diese Interaktionen sind leider nicht immer in ihrem Kontext nachvollziehbar oder winden sich derart in künstlerischen Metaphern, dass sie zum seelenlosen Selbstzweck verkommen. Hinzu kommt das Problem, dass der Zuschauer keine konkrete Rolle einnimmt, sondern ständig zwischen allen Beteiligten und dem reinen Beobachten wechselt. Somit ist es schwer sich einem „Mittendrin“-Gefühl hinzugeben und die Geschehnisse als Gesamthandlung wahrzunehmen, da jede Momentaufnahme quasi für sich selbst steht. Das ist deshalb so tragisch, weil „That Dragon, Cancer“ viele kreative Ideen bereit hält, um die Gefühlswelt der leidenden Eltern darzustellen und Atmosphäre aufzubauen, diese jedoch regelmäßig durch inspirationslose Eingaben zerstört.
Das Thema alleine macht noch kein gutes Endprodukt
Es ist schwer „That Dragon, Cancer“ zu kritisieren, denn wenn das Spiel den Greens helfen konnte ihre Trauer zu verarbeiten, besitzt es bereits eine Daseinsberechtigung. Ob es seiner Funktion als Schlüsselloch zur Verlustbewältigung stand hält oder Personen mit ähnlichen Schicksalen als Bereicherung dient, ist in jedem Fall fraglich. Das habe ich jedoch von einer autobiografischen Geschichte auch nicht erwartet. Diese kann ich lediglich beobachten und Zeuge einer Situation werden, die meinem Alltag fremd ist, um bestenfalls eine emotionale Erfahrung zu erleben. Für mich hat dies unterm Strich leider nicht gezündet. Dafür ist das Thema so (offensichtlich) bedrückend, dass es grundsätzlich keiner Kunstform bedarf, um mir die Tragik genauer aufs Brot zu schmieren. Ebenso hat „That Dragon, Cancer“ die Möglichkeiten des Mediums „Videospiel“ absolut unzureichend genutzt, um überhaupt einen Mehrwert in diesem Bereich zu erzeugen. Mit inhaltsleeren Aufgaben schafft man noch lange kein packendes, interaktives Erlebnis. Das betrifft übrigens nicht nur die Konzepte an sich, sondern auch Spielmechanik und Spielgefühl, die technisch stark rückständig sind. Aber auch Thematisch könnte es für den ein oder anderen zu Reibereien kommen, denn Religion als Hoffnungsspender ist für Amy und Ryan ein großes Thema für die Verarbeitung gewesen. Das mag zwar verständlich sein, sorgte bei mir jedem ebenfalls für eine Distanz zu den Betroffenen. Aber wie gesagt: Es ist inhaltlich die Geschichte der Greens, ohne Garantie auf emotionale Schnittstellen. Die wahre Kritik bleibt also bei der Vermischung von Interaktion und der Darstellung.
Fazit
„That Dragon, Cancer“ ist keine Innovation der Spielekultur. Als Alleinstellungsmerkmal zählen ein starkes Thema und sehr private, emotionale Einblicke in das Leben der Familie Green mit einer schönen Mischung aus ehrlichem Gedankengut und originalen Tonaufnahmen, wobei die reduzierte grafische Präsentation dem Konzept dabei keinen Abbruch tut. Als Bremse fungiert lediglich die Interaktion, sofern diese nicht zur freien Beobachtung gehört, sondern in ein Pflichtprogramm aus unnötigen Spielhülsen mündet. Da waren andere Spiele in der Vergangenheit einfach durchdachter. Wer dennoch einer extrem-dramatischen Form des Voyeurismus beiwohnen will, sich nicht viel aus Gameplay macht und sich für künstlerische Darstellungsformen in Videospielen interessiert, sollte „That Dragon, Cancer“ eine Chance geben. Allen anderen, die Wert auf abgeschmeckte Konzepte legen, bringt diese zwei- bis dreistündige Dokumentation trotz des brisanten Themas wohl kein emotionales Erlebnis.
Anmerkung zum Wertungskasten: Aufgrund der Tatsache, dass „That Dragon, Cancer“ auf wahren Begebenheiten beruht, sehen wir uns aus Respekt vor dem Verlust der Familie Green nicht im Recht diesen Weg der Verarbeitung mit irgendeiner Zahl zu bewerten und verzichten demzufolge auf eine Gesamtwertung.
Wisst ihr warum sich die Familie Green gerade für eine Verarbeitung in Form einses Spiels entschieden hat? Oder ob sie selbst beruflich Kontakt in die Branche haben?
Also Wikipedia hat da ein Bisschen was zum Hintergrund (inwiefern das akkurat ist, weiß ich aber nicht, da ich das Spiel zwar während der Entwicklung verfolgt habe, aber ich mich daran nicht weiter erinnern kann): https://en.wikipedia.org/wiki/That_Dragon,_Cancer#Development
Danke für die Info. Ich finde sowas ja immer schwierig. Nicht aus spielerischer Sicht sondern, weil ich mich immer Frage welchen Sinn sowas für die Verarbeitung der Trauer hat. Aber ich stecke ja auch nicht in ihrer Situation.