Lesezeit: 7 MinutenDie Idee, dass es ein Ende der Geschichte gäbe, ist so alt wie die Geschichte selbst. Bereits vor Jahrhunderten herrschte in weiten Teilen der Zivilisation die Überzeugung, dass die Menschheitsgeschichte auf ein vorgeschriebenes und unausweichliches Ziel hinführe und dort zu ihrem Ende käme. Egal, ob wir von einem herabstürzenden Himmel, dem Jüngsten Gericht oder von einem Kollaps der Zivilisation zur Jahrtausendwende heimgesucht werden, ein Grund zur Beunruhigung war stets schnell gefunden. Dass es bisher noch nicht dazu kam, ist ein dankenswerter Umstand, der uns nicht nur Zeit gibt, um weiterhin über neue Weltuntergangsszenarien nachzudenken, sondern auch darüber, welche geschichtsphilosophischen Implikationen sich daraus womöglich ableiten lassen. Jemand, der in diesem Zusammenhang besonderen Eindruck hinterließ, war der deutsche Philosoph Karl Jaspers, dessen Überlegungen vor rund 60 Jahren auch international die Runde machten. Sein Buch, “Vom Ursprung und Ziel der Geschichte”, 1949 erschienen, prägte über Jahre die Forschung in der Geschichtstheorie und auch wenn die darin dargelegten Thesen heute überwiegend als überholt gelten, so lassen sie sich partiell immer wieder in unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen im Alltag nachweisen. Ein Nachweis, den man auch problemlos für Videospiele führen kann, spätestens seitdem diese zunehmend damit begannen, sich mit historischen Inhalten zu befassen oder gar versuchten diese möglichst authentisch abzubilden. Dass die Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex durchaus relevant ist, lässt sich auf vielerlei Ebenen belegen. Spiele wie die Civilization-Serie, Europa Universalis, aber auch Titel wie This War of Mine, sowie das mehrfach preisgekrönte Valiant Hearts: The Great War, wollen schon lange nicht mehr nur unterhalten, sondern unlängst einen Beitrag zur historischen Bildung leisten. Eine Leistung, deren Erbringung die Entwickler vor neuartige Probleme stellt, da das Lehren von Geschichte mittels Videospiel ein bisher nur überschaubar erkundeter Forschungszweig ist. Mit welchen Fragestellungen und Problemen man sich in diesem Zusammenhang als Entwickler oder Lehrender auseinandersetzen kann, möchte ich an dieser Stelle exemplarisch hervorheben.
Bleiben wir zunächst bei Civilization, einer Spielreihe, die bereits seit den frühen 90ern eine Vormachtposition in Sachen Geschichtsdarstellung in Videospielen einnimmt. Angelegt als Globalstrategiespiel, führt der Spieler ein Volk seiner Wahl von der Jungsteinzeit, über die Gegenwart bis hin in die ferne Zukunft. Civilization galt damals als revolutionär, da das Spiel neben einer militärischen Komponente auch eine wirtschaftliche und technologische Schiene bot, durch die sich der quantitativ messbare Fortschritt der Völker vergleichen ließ. Die daraus ableitbaren Implikationen sind nicht nur vor historischem Hintergrund fragwürdig. Je effizienter ein Volk oder eine Nation produziert, als desto fortschrittlicher gilt sie seither gemäß den Maßstäben der Civilization-Reihe. Zugegeben, Quantifizierungen und Rangordnungen sind in Videospielen nicht erst seit Civilization vorhanden, sondern maßen bereits Jahrzehnte vorher unsere digitalen Erfolge. Vor dem Hintergrund einer häufig kompetitiven Ausrichtung von Videospielen, sind solche Bewertungssysteme durchaus sinnig, lassen sich aber trotzdem nicht immer schablonenartig verwenden. Getragen wird dieser Bewertungsrahmen in Civilization auch dadurch, dass die randomisierte Verteilung strategischer Ressourcen maßgeblich über das frühe Wachstum und den militärischen Erfolg einer Nation bestimmt. Anfangs sind es noch Pferde und Eisenvorkommen, später dann Öl, Uran und Aluminium, die sicherstellen, dass es um den zivilisatorischen Fortschritt gut bestellt ist. Es ist daher maßgeblich die Umwelt, die bereits früh darüber entscheidet, ob die Weichen für eure Nation auf Erfolg oder Misserfolg gestellt sind. Nicht Revolutionen, sondern Ökonomien sind hier der Motor der Geschichte – Marx hätte sich sicherlich gefreut.
Civilization steht mit dieser inhaltlichen Fokussierung jedoch nicht allein. Ähnliches lässt sich in anderen Titeln, wie beispielsweise Age of Empires nachweisen. Hier ist die Verknüpfung von Fortschritt und Ressourcen sogar noch immanenter, da die Übergänge zwischen den zu durchlaufenden Zeitaltern immer direkt an zu erbringende Rohstoffreserven gebunden ist. Ihr möchtet aus der Steinzeit rauskommen? Das wären dann bitte 500 Einheiten Fleisch. Nichts zu danken.
Zugegeben, Zahlungsmittel und Produktionsmengen lassen sich in der Regel ohne größeren Aufwand als natürliche Zahlen abbilden und werden auch in der Realität in verschiedensten Ausprägungen statistisch erfasst. Fragwürdig wird es dann, wenn Spiele versuchen Dinge zu quantifizieren, die so gar nicht quantifizierbar sind. Ein Rechenbeispiel: Gemäß Civilization V liefert der Bau eines Klosters einen Standardbetrag von +2 Glauben pro Spielrunde. Übertragen auf die Realität wäre Deutschland mit seinen ca. 200 Klöstern mehr als viermal so fromm, wie Österreich mit seinen 50. Eine solche Rechnung, in der Realität abstrus erscheinend, ist in Videospielen Gang und Gebe. Die digitale Quantifizierung des reell Unquantifizierbaren ist jedoch nicht zwingend negativ zu bewerten. Im Fall von Civilization erlaubt es die Abbildung von Aspekten der Zivilisationsgeschichte, die so bisher nicht übergreifend in Videospielen dargestellt wurden. Ein weiterer dieser Gesichtspunkte, der mindestens für genauso viele Missverständnisse sorgen kann, ist die Implementierung von Kultur als generierbare Ressource. Museen, Theater, berühmte Persönlichkeiten und andere Spielelemente liefern hier einen festgesetzten Wert an Kultur pro Spielrunde.
Ein Museum zum Beispiel leistet nur den halben Beitrag einer Rundfunkstation zum kulturellen Wachstum und übersteigt trotzdem noch den kulturellen Wert von Kaffee um das Doppelte. Als ob solche Sätze nicht schon schlimm genug wären, lassen sich diese Fäden noch weiter spinnen. Nehmen wir an, wir entscheiden uns zu Spielbeginn unser Abenteuer die Kontrolle über Frankreich zu übernehmen. In Civilization V steht Napoleon Bonaparte den Franzosen vor und begleitet diese von 4000 vor Christus bis hin in die Postmoderne als Vater der Nation. Weiterhin ist festzuhalten, dass neben den historischen Figuren, jedes Volk mit ganz bestimmten Boni ausgestattet ist, die maßgeblich den Idealparkour der individuellen Zivilisationsgeschichte vorgeben. Im Falle Frankreichs ist es das „Ancien Régime“, was den kulturellen Ausstoß pro Stadt um 2 Punkte erhöht. Es bietet sich also an, sollte man Frankeich spielen, sich für einen kulturorientierten Spielstil zu entscheiden. Stereotype und ein statisches Geschichtsnarrativ bestimmen demnach die Darstellung historischer Inhalte. Anders ließe sich vermutlich auch nicht erklären, warum Deutschland die Boni bekam, die es in Civilization V bekam.
Ohnehin müsste man sich fragen, wie sinnig diese Charakterisierungen von Völkern oder Nationen überhaupt sind, da deren Merkmale sich aus dem gegenwärtig dominierenden Narrativ ableiten und ein ambivalentes Geschichtsbild allein schon aus Komplexitätsgründen außen vor bleiben muss. Ein Problem, das auch in Spielen wie Assassins Creed oder jedem beliebigen Weltkriegsshooter nicht weiter vertieft wird. So entstehen starre Strukturen, in denen eigentlich komplexe Inhalte auf fast schon gefährlich triviales Niveau herabgesetzt werden. In der Konsequenz verlieren sie damit ihre Aussagekraft und dienen auch nicht mehr wirklich zur akkuraten Darstellung historischer Inhalte.
Das gilt insbesondere dann, wenn Globalstrategiespiele wie Civilization oder auch Ableger der Total-War-Reihe Ausflüge ins Kontrafaktische anbieten. Pyramiden in Berlin, Indien beherrscht die gesamte Karibik, das Byzantinische Reich als Atommacht und Panzer, die um 1720 durch Europa rollen – allesamt Auswüchse, die im Rahmen der Spielmechaniken durchaus realisierbar sind. Eine Liste, die beliebig zu verlängern ist. In Europa Universalis III beispielsweise ist das Auftreten von Krankheiten und Seuchen scheinbar reiner Zufall, denn die Parameter für Seuchen sind tief im Spielcode versteckt und nicht, wie es sinniger gewesen wäre, in Verbindung mit sich ständig ausbreitendem Handel und der Verschränkung vormals getrennter geographischer Klimazonen und Lebensräume verbunden. Eine damals vertane Chance, die die Entwickler allerdings im viertel Teil aufzuarbeiten wussten. Auch ist festzustellen, dass bestimmte Themenkomplexe, wie beispielsweise die Sklaverei oder die Folgen der Kolonisation durch europäische Großmächte auf dem amerikanischen Kontinent weitestgehend ausgeklammert werden. Ein weiteres Indiz für die westlich eingefärbte Perspektive, die eine Vielzahl entsprechender Videospieltitel dominiert und nicht nur aus ökonomischen Interesse derlei kontroverse Themen bewusst außen vor lässt oder, sollten sie sich doch im Spiel befinden, nicht weiter vertieft.
Allerdings soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass es sich bei genannten Kritikpunkten um eine endlose Kaskade von Fehlentscheidungen handelt, die jenseits des Spiels keinerlei Relevanz für die Geschichtstheorie besäßen. Im Gegenteil: Vielmehr ist jeder dieser Gesichtspunkte eine Chance. Die Chance, eine historische Frage zu stellen.
Veranschaulichen lässt sich das sehr schön am Beispiel von Technologiebäumen, wie wir sie in Age of Empires, Civilization und zahlreichen anderen Spielen finden. Häufig diktieren die freizuschaltenden Technologien eine zu begehende, historische Einbahnstraße. Es gibt einen Anfang und ein Ende. Zwischen diesen festgesetzten Punkten können wir unser Volk wie auf Schienen von Technologie zu Technologie durch die Zeitalter führen. Weltgeschichte wird als reine technologische Entwicklungsgeschichte verstanden. Bereits hier ergeben sich zahlreiche potentielle Einstiegspunkte, die man in den unterschiedlichsten Lernumgebungen erörtern kann. „Ist Geschichte endlich und ihr Verlauf vorgeschrieben?“ wäre nur eine von unzähligen Fragen, die man in diesem Zusammenhang stellen könnte. Eine Frage, die keine einfachen Antworten zulässt und zu deren Beantwortung man eine schiere Unzahl von Positionen gegenüberstellen kann.
Hier können Globalstrategiespiele wirklich trumpfen. Dadurch, dass sie keinen spezifischen Fokus setzen und bemüht sind einen möglichst umfassenden Einblick in die Menschheitsgeschichte zu bieten, lassen sie sich sehr gut als Ausgangspunkt für allerlei historische Fragestellungen verwenden. Stellen wir beispielsweise die in Civilization VI erschließbaren Regierungsformen nebeneinander, so sehen wir recht schnell, dass das Spiel Demokratien, den Kommunismus und den Faschismus allesamt als Regierungsformen der Moderne verortet und diese mit entsprechend weitreichenden Boni versieht. Inwiefern aber der Ansatz gerechtfertigt ist, antike und moderne Regierungsformen quantitativ gegeneinander aufzuwiegen, den bleibt das Spiel schuldig. Ebenso könnte man sich fragen, inwiefern die vom Spiel suggerierte Zahl von gesteigerten Produktionsvolumina in Verbindung zum Kommunismus steht. Lässt sich belegen, dass Wirtschaften unter kommunistischer Herrschaft im Verhältnis zu anderen Regierungsformen produktiver sind? Fragen, die man in dieser oder anderer Form auch an die anderen genannten Regierungsformen stellen kann.
Der Fragenkatalog ist schier endlos und auch wenn man, ähnlich wie genannte Spiele mit ihren unzähligen Features, leicht ins Beliebige abdriften kann, so bieten sich mit entsprechender Vor- und Aufbereitung zahlreiche Einstiegspunkte für umfassende historische Analysen. Verschieben wir den Betrachtungsrahmen kurzzeitig auf andere Spiele, die sich historische Inhalte zum Thema gemacht haben. Nehmen wir an dieser Stelle This War of Mine, ein Spiel dessen Fokus kaum enger angelegt sein könnte. In einer namenlosen Stadt, in einem namenlosen Land übernehmen wir inmitten von Kriegswirren die Kontrolle über eine kleine Gruppe von Überlebenden. Wir spielen keine Helden und keine Soldaten, sondern schlüpfen in die von Mängeln gezeichnete Haut von Zivilisten. Überfälle, Nahrungsknappheit und brutalste moralische Dilemma prägen hier unseren Alltag. Angelehnt an die Belagerung Sarajevos im Jahr 1992, zielt This War of Mine explizit auf das Nachempfinden der Entbehrungen und das Leid der einfachen Zivilbevölkerung und will durch seine schonungslose Präsentation das Publikum für einen spezifischen historischen Sachverhalt sensibilisieren. Ist das Spielprinzip auch ein vollkommen anderes, so ist die Konsequenz doch dieselbe. Im Idealfall steht am Ende, wie auch immer es geartet sein mag, eine historische Frage.
Für sich genommen können weder Civilization, noch This War of Mine oder andere Titel ein historisch kohärentes Narrativ simulieren, allerdings kann jeder dieser Titel unter entsprechender Anleitung einen relevanten Beitrag zur historischen Bildung heranwachsender Generationen leisten. Und sollte vielleicht doch irgendwann der Himmel herabstürzen, dann wenigstens nicht über leeren Köpfen. Damit könnte sich sicherlich auch Karl Jaspers anfreunden.
Ein richtig toller Artikel, den du da geschrieben hast. Da würde es mich nicht wundern, wenn der auch im Annual am Ende des Jahres landen würde. 🙂
In der Tat scheinen Strategiespiele nicht ideal für eine historisch akkurate Darstellung von Geschichte zu sein. Das fängt schon damit an, dass ich bei historischen Ereignissen wie einer bekannten Schlacht, Erfolg habe, wo mein historisches Vorbild versagt hat und was dann zum Untergang einer Weltmacht führt. Doch das würde ja dem System eines Spiels entgegnlaufen und ist auch das was viele frustrieren wird. Ich baue etwas auf, spiele das Spiel erfolgreich, doch ab einem gewissen Punkt setzen eben historische verbuchte Ereignisse ein, die ein weiter so unmöglich machen. Ich bin mir jetzt auch nicht sicher, ob es Strategiespiele gibt, die ein historisch akkurates Geschichtserlebnis bieten. Was im Endeffekt einen immer gleichen Ablauf bedeuten würde aus Rise and Fall eines Landes.
Ich würde jetzt sehr gerne eine hochkomplexe Anlayse an dier Stelle anbringen und mich über das für und wider von realistischem Anspruch und Gesellschaftshistorischen Diskurs auslassen. Aber ich kann momentan einfach nur sagen: Was für ein geiler Text.
Sorry, not sorry.
Freut mich, dass euch beiden der Text gefällt.
Ich denke, dass es eben tatsächlich eine gewisse Unvereinbarkeit von Spielkonzeption und Geschichtsdarstellung gibt und vielleicht auch geben muss. Weiterhin ist es vermutlich auch eine Frage der inhaltlichen Fokussierung, die darüber entscheidet, wie genau bestimmte Sachverhalte dargestellt werden können.
Ein Strategiespiel, das in diesem Kontext auch noch sehr bemüht ist, ist Hearts of Iron. Hier besitzt jedes spielbare Land einige Dutzend Events, die gekoppelt an den bisherigen Spielverlauf und in Verbindung mit dem Datum im Spiel ausgelöst werden. Zum Beispiel ist da der Event der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts (im Spiel: Ribbentrop-Molotow-Pakt), der an das Jahr im Spiel gebunden ist. Hier und an vielen anderen Stellen kann der Spieler sich entscheiden, ob er diesen Pakt oder andere Ereignisse in Kongruenz mit der uns bekannte Geschichte ausspielen möchte oder doch lieber seine eigene schreibt. Hier hätte man zumindest die Möglichkeit den bekannten Bahnen zu folgen – für eine Zeit lang.