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Chuck My Life #4 – Let’s talk about Sex

von am 28. April 2017
 

Lesezeit: 4 MinutenErinnert ihr euch an Custer’s Revenge? Unseren jüngeren Lesern wird der Name vermutlich nichts sagen, aber all diejenigen unter euch, die einen Atari 2600 besessen haben, werden sicherlich schon einmal von diesem berüchtigten Stück Software gehört haben. Im Jahr 1982 erschien das Minispiel des Developers Mystique und machte Sex in Videospielen lange Zeit zu einem Tabuthema. Für all diejenigen, die keine Ahnung haben, wovon ich spreche: In Custer’s Revenge spielt man den Bürgerkriegsgeneral Custer, der nackt und mit einer imposanten Pixelerektion hin- und herrennt und dabei Pfeilen ausweichen muss, um möglichst lange eine gefesselte, amerikanische Ureinwohnerin zu vergewaltigen. Ja, ihr lest richtig. Ein Hoch auf unsere anspruchsvolle Videospielkultur!

Vielleicht ist es der Gedanke an dieses Game, der einen bitteren Beigeschmack hinterlässt, wenn die virtuellen Menschen auf meinem Bildschirm anfangen, sich die Kleider vom Leib zu reißen, aber die Zeiten haben sich (glücklicherweise) geändert und mittlerweile erforschen immer mehr Developer die schönste Nebensache der Welt in ihren Werken und insbesondere im Kontext meiner kürzlich verfassten Mass Effect: Andromeda-Review beschäftigt mich dazu eine Frage: Wozu das Ganze überhaupt?

Ich denke nicht, die Szenen in Mass Effect seien schlecht gemacht oder in irgendeiner Weise skandalös. Mir entzieht sich nur irgendwie generell der Zweck des Ganzen. Sicherlich dient eine Romance-Option in gewissem Maße der Immersion, aber die Liebesgeschichten in Mass Effect wirken so nebensächlich und unerheblich für den Plot, dass die Sexszenen noch nebensächlicher und noch unerheblicher wirken. Es fühlt sich ein wenig so an, als würde ich 20 Stunden lang einen RPG-Shooter spielen, aber nach 19 Stunden wird die Geschichte rund um das Schicksal der Galaxie unterbrochen, für einen zweiminütigen Softporno. Zwei Minuten, die man auch sinnvoller hätte gestalten können. Fragt meine Ex.

Nicht, dass ich ein Problem mit Sex in Medien hätte, nur wirken die Situationen in vielen Spielen so willkürlich an den Haaren herbeigezogen, dass mich der Anblick einer blauen Brustwarze eher aus meiner Immersion herausreißt, anstatt meine Vorstellung von Ästhetik anzusprechen. Es ist ein Stilbruch und wenn eine Sexszene nicht der Immersion dient, dann erfüllt sie im Prinzip keinen Zweck. Nun, vielleicht einen ganz bestimmten Zweck, aber wir sind ja keine 14 mehr und trotz aller Fortschritte im Bereich Grafik und Visuals, ist es eher unangenehm, den Charaktermodellen beim kopulieren zuzusehen. Man weiß, dass sich einer der Designer des Games hingesetzt hat und genau überlegt hat, wie er die Brüste programmieren muss, damit sie zwar ein wenig „wigglen“ aber nicht zu viel. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf, wie eine unterbezahlte Arbeitskraft in einem dunklen Raum die Nacktmodelle der Charaktere erstellt, ist das einzige an meinem Körper, das sich aufstellt, meine Nackenhaare. Ich bin der Meinung, Mass Effect würde genauso gut, wenn nicht gar besser funktionieren, wenn die eigentliche „Action“ off-screen geschähe.

„Aber Chucky!“, höre ich euch klagen, „Du musst doch keine Romance-Option wählen, wenn du das nicht möchtest! Ich gucke meinem virtuellen Ich gerne dabei zu, wie es von einem Alien begattet wird!“

Ja, hypothetischer Kritiker, ein sehr guter Einwand! Die Sache ist allerdings die, dass BioWare auch mit eben diesem Feature wirbt. Auf Twitter wurde die potenzielle Kundschaft damit gelockt, Mass Effect: Andromeda sei das expliziteste Game der Reihe und es gäbe mehr mögliche Pairings. Und auch wenn das stimmen mag, scheint es ja so, als hätte man bei der Entwicklung des Games viel Wert auf dieses Feature gelegt. Allerdings sind die Beziehungen eher schlecht als recht konzipiert. Sie fügen sich nicht richtig in die große, soziale Komponente des Games ein. Man flirtet so lange, bis die Person bereit ist, mit einem in die Kiste zu steigen. Klingt ein wenig wie Die Sims, fühlt sich auch ein wenig so an. Ich verlange ja auch gar nicht, dass diese Szenen entfernt werden. Ich sage lediglich, dass ich für meinen Teil darauf sehr gut verzichten kann. Und Mass Effect ist bei weitem nicht das einzige Franchise, das dieses Feature benutzt. The Witcher, God of War und natürlich das fantastische Ride to Hell: Retribution sind alle unter anderem(!) bekannt für ihre „erotischen Ausschweifungen“.

Aber ich will ja nicht nur meckern. Es gibt durchaus auch positive Beispiele. Spiele wie Fahrenheit, Heavy Rain oder Until Dawn, um nur drei zu nennen. Die Grundkonzepte dieser Spiele sind aber auch anders. Die künstlerische Umsetzung der Story steht im Vordergrund. Man trifft Entscheidungen, schreitet in der Geschichte voran und baut ein soziales Konstrukt zwischen den verschiedenen Charakteren auf. Gameplay ist nebensächlich. Ein wenig, als würde man einen interaktiven Film sehen. Wenn also Heavy Rains Protagonist auf der verzweifelten Suche nach seinem Sohn ein wenig Geborgenheit in den Armen einer Frau sucht, dann hat eine solche Szene Gewicht und dann fühle ich mich auch nicht aus der eigentlichen Geschichte herausgerissen.

Ob in Film, Literatur oder Spielen, die Frage, wie viel man dem Publikum wirklich zeigen möchte, ohne in die Vulgarität abzuschweifen, ist eine knifflige und ich maße mir nicht an, die Antwort zu kennen. Allerdings funktioniert Erotik oft ähnlich wie Horror. Viel wichtiger als das, was man sieht ist das, was man nicht sieht. Und auch wenn ich damit ein wenig klinge, wie mein Lehrer damals im Sexualunterricht: In den meisten Fällen braucht es keinen Nude-Cheat und keinen “Hot Coffee”-Mod. Manchmal ist der Gedanke viel wirkungsvoller als die echte Sache und in jedem Fall wirkungsvoller als die Pixelerektion an einem nackten Atari-Cowboy. Die Achtziger waren eine seltsame Zeit.

Artikel der Rubrik “Kommentare” sind persönliche und subjektive Meinungsäußerungen unserer Redakteure. Darin geäußerte Meinungen geben nicht unbedingt die Meinung von IKYG oder der Redaktion wieder.
Kommentare
 
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  • MonkeyHead
    29. April 2017 at 16:58

    Abseits vom Thema Sex und Erotik und der Sinnhaftigkeit hinter der Darstellung nackter Tatsachen, besteht ja durchaus eine generelle Frage so mancher Aktionen. Seien es Gameplay, wie etwa das Nathan Drake als eigentlich friedfertiger Mensch, hunderte Menschen tötet, oder eben Sexszenen in Mass Effect. Wo der Sinn bei Uncharted oder auch Titeln wie Tomb Raider noch darin liegen mag, dass man ja irgendwas auch zum Spielen braucht und man sich ja nur gegen Gegner wehrt (Ich persönlich finde ja, dass anderes Gameplay besser geeignet wäre). Anders verhält es sich da für mich bei Mass Effect, wo der Übergeordnete Sinn für die Story vielleicht nicht in einer Liebesszene liegt, aber dennoch für mich dazu führt, dass ich eine emotionale Bindung, über drei Teile hinweg (mehr oder weniger) zu einer Figur aufbaue. Nicht nur weil mein virtuelles Alter Ego mit der Figur rummacht, sondern auch weil ich mit ihr Rede, sie auf Missionen mitnehme und dergleichen.
    Wie so oft kommt es auf den Kontext an.


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