Lesezeit: 4 MinutenInnerhalb der Geschichtswissenschaft gibt es den Teilbereich der sogenannten Kontrafaktischen Geschichte. Diese Teildisziplin, von vielen Historikern als unseriös betrachtet, beschäftigt sich mit historischen Gedankenspielen auf Grundlage vorhandener Quellenbelege, wie zum Beispiel: “Hätte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941 zur Einnahme Moskaus und damit zum deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg geführt, wäre er eher im Jahr erfolgt?” Ein seriöser Historiker würde euch diese Frage nicht beantworten wollen, aber in Spielen, wie dem kürzlich erschienenen Hearts of Iron IV, habt ihr die Gelegenheit euch selbst eine Antwort zu schneidern.
Zugänglicher, aber noch immer sperrig für Einsteiger
Hearts of Iron war noch nie für seine Einsteigerfreundlichkeit bekannt. Textlastige Menüs, zig Konfigurations- und Anpassungsoptionen für Einheiten, Wirtschaft, Technik, Diplomatie und tonnenweise andere Details überrollen jeden Neuling. Daran ändert leider auch das Tutorial nichts, denn jenseits der grundlegenden Spielelemente, lässt euch Hearts of Iron IV weitestgehend auf euch allein gestellt. Was für Einsteiger sehr schnell in Frustration umschlagen kann, ist für Veteranen der Reihe nichts Neues. Dabei wurde bisweilen schon Einiges getan, um das Spiel an entsprechenden Punkten zu entschlacken. Technologie und Forschung sind jetzt wesentlich zugänglicher gestaltet und dank der verbesserten KI kann es an manchen Stellen durchaus die eine oder andere Überraschung geben, wenn euch Feinde in die Flanken fallen oder anderweitig das Leben schwer machen. Bis ihr allerdings an den Punkt kommt, an dem ihr das Spiel wirklich in seiner ganzen Pracht genießen könnt, vergehen einige Stunden.
Den Lauf der Geschichte in der Hand haben
Ob ihr diese Zeit aufbringen wollt, ist selbstverständlich euch überlassen. Hilfreich wäre es aber allemal, wenn ihr ein wenig Begeisterung für Geschichte mitbringt. Der spielbare Zeitraum zwischen 1936 und 1948 ist gespickt mit zahlreichen historischen Ereignissen, die sich wiederum ganz konkret auf den Spielverlauf niederschlagen. Dabei ist es egal, ob es sich um den Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs oder die Annexion des Rheinlands handelt. Wer sich in der Geschichte auskennt, der weiß bereits im Vorfeld welche potentiellen Ereignisse und Hindernisse ihn im Rahmen seines Spiels noch erwarten könnten. Interessant ist hier, dass ihr in Hearts of Iron IV deutlich mehr Kontrolle über den Ablauf der Geschichte habt. Denn ein neues Feature sind die sogenannten nationalen Schwerpunkte. Angelegt wie ein Technologiebaum, bestimmt ihr hier die Ausrichtung und Zielsetzung eurer Nation. Solltet ihr euch beispielsweise für das Deutsche Reich entscheiden, dann könnt ihr die historischen Weichen über mehrere Zwischenschritte so stellen, dass ihr euch mit der Sowjetunion verbündet und der Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 ausbleibt. Darüber hinaus ist diese Funktion kein exklusiv deutsches Feature, denn jede Nation verfolgt ihre eigenen Ziele und kann individuell von euch ausgerichtet werden. Ein faschistisches England? Möglich. Ein demokratisches Deutschland um 1939? Möglich. Tibet, das die Welt erobert? Schwerlich, aber möglich!
Wissenschaft und Wirtschaft als Rückgrat eurer Kriegsbemühungen
Damit das mit der Weltherrschaft Tibets klappt, müsst ihr dafür Sorge tragen, dass euer Land neben zivilen Produktionsanlagen auch hinreichend militärische Ausrüstung produziert. Jede Provinz, in die euer Land eingeteilt ist, kann dabei eine bestimmte Anzahl entsprechender Einrichtungen fassen. Es gilt abzuwägen, welche Provinzen ihr für den Bau ziviler und welche ihr für den Bau militärischer Einrichtungen deklarieren wollt. Darüber hinaus könnt ihr Produktionsprozesse durch entsprechende Technologien zusätzlich verbessern. Eine dezentrale Produktionsausrichtung macht eure Einrichtungen zwar weniger anfällig für punktuelles Bombardement, liefert allerdings aber auch nicht annähernd so viele Erzeugnisse, wie eine zentrale und auf Ballungsgebiete fokussierte Produktion. Ähnlich verhält es sich in Hearts of Iron IV im Bereich von Wissenschaft und Forschung. Dabei ist Forschung auch nicht gleich Forschung, denn neben handfester Materialforschung, wie neuartigen Geschützen, könnt ihr eure Armee zusätzlich auf eine bestimmte Militärdoktrin hin ausrichten und diese zunehmend spezialisieren. Allerdings und das ist eine sinnige Einschränkung, könnt ihr nicht einfach jede Doktrin erforschen und so zur unaufhaltbaren Militärmacht werden.
Belagerungen, Zangenbewegungen und koordinierte Schlachtpläne
Doktrinen, Technologie und Wirtschaft helfen euch sicherlich einen Krieg zu gewinnen, aber um eine Schlacht zu gewinnen, da braucht es ganz konkrete Taktiken und bestenfalls weiterführende Strategien. Panzer in Gebirgsschlachten führen? Seit Hannibal keine so gute Idee mehr. Angriffe über Flüsse? Besser vermeiden. Bomber ohne Begleitschutz über die Metropolen eurer Feinde schicken? Nein, nein, nein! Hearts of Iron IV bestraft diese und andere Fehler rigoros, was gesamte Frontverläufe binnen weniger Minuten komplett aufreiben kann. Es gilt stimmige Einheitenkompositionen zu bilden und ihnen erfahrene Generäle zuzuweisen, um dann euren Gegner mit gezielten Vorstößen, Zangenbewegungen und ähnlichen Strategien der Kriegsführung in die Knie zu zwingen. Was sich hier noch recht überschaubar anhört, gestaltet sich im Spiel allerdings als wahre Wissenschaft, denn dank der zahllosen Untermenüs und Optionen werden Veteranen nach wie vor ihren Spaß an der Verschiebung von digitalen Frontverläufen haben.
Hearts of Iron IV – Eine Geschichtsstunde mit Hindernissen
Hearts of Iron IV ist ein würdiger Nachfolger vorangegangener Titel und ein Spiel, das euch eine der aufreibendsten Epochen der Geschichte des letzten Jahrhunderts näherbringen kann. Dabei macht der vierte Teil der Reihe durchaus einiges besser als seine Vorgänger, schafft es aber wieder nicht einen für Neulinge zugänglichen Einstiegspunkt in das Genre zu liefern. Die gesamte Präsentation ist noch immer stark textlastig und nach wie vor dominieren zahllose Einstellungsoptionen und klickbare Boxen die unterschiedlichsten Menüleisten. Kämpft ihr euch allerdings durch diese ganzen Menüs und investiert einige Stunden, die nicht selten frustrierend sein können, dann eröffnet sich euch nach und nach ein hochkomplexes Spiel, das so im Kontext historischer Strategiespiele nahezu konkurrenzlos ist.