Lesezeit: 4 MinutenKennt ihr schon das Volk der Iñupiat? Die Iñupiat sind eine Gruppe von arktischen Ureinwohnern, die sich in der EiswĂĽste Alaskas angesiedelt haben und dort als Jäger und Sammler in sehr gemeinschaftlichen Verhältnissen leben. Sie beherrschen neben Fischfang und Jagt auch die Verarbeitung von Häuten, Fellen oder anderen Materialien und tragen ein umfangreiches Kulturerbe in sich, welches Musik, Zeichnungen, Geschichten, Mythologie oder auch eigens entwickelte Werkzeuge umfasst. Die Verbindung zwischen den Iñupiat und dem Medium „Videospiel“ beginnt beim amerikanischen Publisher E-Line Media, der sich hauptsächlich auf Lernsoftware und -Spiele spezialisiert hat. Unter dem Ăśberbegriff „World Games“ sollen nun auch Produkte hergestellt werden, die kulturelle Inhalte spielerisch vermitteln. Das erste Ergebnis dieses Konzepts hört auf den Namen Never Alone (Kisima InĹ‹itchuĹ‹a) und wurde von Upper One Games entwickelt, einem Joint Venture aus E-Line Media und Cook Inlet Tribal Council, einem gemeinnĂĽtzigen Unternehmen, das im Interesse der einheimischen Bevölkerung Alaskas arbeitet. Wir sprechen hier also vom ersten “native” Entwicklerstudio Amerikas und einer Gradwanderung zwischen Dokumentation und Videospiel, verpackt in einen Puzzle-Plattformer. Kann dieses hohe MaĂź an Kreativität und Innovation letztendlich ĂĽberzeugen?
Im Auge des Sturms
Die Rahmenhandlung fĂĽr Never Alone entspringt der Geschichte „Kunuuksaayuka“ aus der Feder von Robert Nasruk Cleveland, welche die Geschichte eines kleinen Mädchens erzählt. Nuna – so lautet ihr Name – ist eine Iñupiaq (Singular von Iñupiat), dessen Dorf unter dem Einfluss eines mächtigen Blizzards in Lebensgefahr schwebt. Aus diesem Grund begibt sie sich mit einem Polarfuchs auf die Reise zum Ursprung des Sturms, mit dem Ziel diesen aufzulösen. Die Atmosphäre von Gefahr und Kälte, sowie Ruhe und Frieden trifft sich im Einklang mit einem Abenteuer, welches weniger eine Handlung erzählen, sondern etappenweise von den unterschiedlichen Facetten der Kultur berichten möchte. So sieht sich Nuna nicht nur mit der schnee- und eisbehangene Ă„sthetik der Antarktis konfrontiert, sondern auch mit Geistern, Mythen und deren Gefahren. Die Inszenierung gleicht hierbei einem kleinen TheaterstĂĽck. Zum Einstieg werden antike Zeichnungen der Iñupiat zu einem Intro animiert, während das Gameplay von einer Erzählstimme in Originalsprache kommentiert wird, um die Lagerfeuerstimmung zu perfektionieren. UnterstĂĽtzt wird diese Erzählform mit Zwischensequenzen in Spielgrafik, welche die Levelabschnitte miteinander verbinden. Obwohl sich das Ziel der Reise und somit der Handlung im Grunde nicht verändert, ĂĽberraschen dennoch einige unvorhersehbare Ereignisse, die trotz der minimalen Inszenierung eine emotionale Schnittstelle schaffen können.
Limbo on Ice!
Wie anfangs erwähnt, präsentiert sich Never Alone als Plattformer mit Puzzleeinlagen, die jedoch sehr dürftig ausfallen. Hervorgehoben ist zunächst das Zusammenspiel zwischen Nuna und dem Polarfuchs, die auch mit zwei Controllern gesteuert werden können. Ist gerade kein Couchkumpel verfügbar, könnt ihr bequem zwischen den Figuren hin- und her schalten. Der Polarfuchs besitzt als Tier eine spirituelle Verbindung zu Geistern in der Umgebung, die unter anderem als bewegliche Plattformen benutzt werden können. Der Rest ergibt sich aus einfachen Schieberätseln oder Reaktionstests. Das Gameplay fühlt sich eher tapsig an, was natürlich zur kindlichen Protagonistin passt, sich aber dennoch mit dem automatischen Ergreifen von Vorsprüngen dynamisch verhält. Neben zusätzlichen Fähigkeiten wie Schwingen, Klettern oder Schwimmen, kommt Nuna ziemlich schnell in den Besitz einer Steinschleuder, die primär zum Zerschmettern eisiger Barrieren dient. Never Alone ist kein offensives Spiel und die Verhältnisse klar definiert. Ihr seid ein Kind und die Umwelt birgt Gefahren, was sich passenderweise in der Atmosphäre wiederspiegelt. Vereinzelte Kollisions- und Clipping-Fehler sind zwar unschön aber verkraftbar, ebenso wie die KI der Figur, die ihr gerade nicht kontrolliert. Der Schwierigkeitsgrad ist letztendlich nicht gerade fordernd, bietet jedoch genug Abwechslung, um Langeweise zu verhindern. Trotzdem ist klar erkennbar, dass die Prämisse des Spiels auf anderen Faktoren liegt.
Spielend etwas lernen!
Never Alone transportiert Kultur, und zwar auf eine sehr einzigartige Weise. Innerhalb der Levelstruktur befinden sich Eulen, die entweder offen oder versteckt zu finden sind und Teile einer Dokumentation freischalten. Die Entwickler von Upper One Games haben es sich nicht nehmen lassen die Iñupiat in Alaska zu besuchen und einige deren Mitglieder vor die Kamera zu bitten, die Handwerkskunst zu beobachten oder beeindruckende Bilder der Natur und deren Tiere einzufangen. Die hochauflösenden, gut produzierten Dokumentationsschnipsel befassen sich mit der Geschichte, dem gemeinschaftlichen Zusammenleben, der Jagt, aber auch mit Legenden und Mythen oder persönlichen Erlebnissen. Die dokumentarischen Informationen fügen sich hierbei nahtlos ins Gameplay ein, d.h. die Handlung im Spiel wird in einem fließenden Übergang von realen Begebenheiten belegt. Zu jeder Zeit im Spiel landet man per Tastendruck im Menü der freigeschalteten Filmchen.
Die grafische Darstellung des Spiels, die sich in der Unity-Engine präsentiert, verwendet einen charmanten Cartoon-Look, der unverkennbar ethnische Einflüsse enthält. Die Animationen sind flüssig, verspielt und lassen das Gesamtbild wie ein kindliches Märchen erscheinen, über dem eine konstante Mystik schwebt. Die Musik- und Soundkulisse tut ihr übriges, um den Spieler in die kalte Hemisphäre zu ziehen. Obwohl die gestalterische Trennung zwischen Realität und Computergrafik einen großen Kontrast zu zeichnen vermag, sollte man Dokumentation und Spiel nicht voneinander trennen, da sie einzeln nicht den Hauch der gemeinsamen Wirkung haben. Beide Komponenten unterstützen sich gegenseitig und vermögen es den Spieler auf unterschiedliche Art und Weise in die Atmosphäre der Antarktis zu katapultieren. Leider beträgt die Spieldauer nur wenige Stunden und kann daher an einem Abend beendet werden, was dem Spiel jedoch keinen Abbruch macht. Wie heißt es immer so schön „Videospiele entführen uns in fantastische Welten!“ Dass Never Alone also auf einer real-existierenden Kultur basiert, macht das Spiel zu etwas ganz Besonderem.
Fazit
„Lernen“ wird in unserer Gesellschaft als etwas Negatives angesehen. Zwar lernen wir in Videospielen immer etwas, sei es die Steuerung, den Umgang mit neuen Fähigkeiten oder die Story der Protagonisten, aber die Verwendung dieses Wissens beschränkt sich stets auf das jeweilige Spiel. Never Alone bricht diese Definition auf und vermittelt kulturelles Wissen in einem abendfüllenden, spielerischen Kontext. Zugegeben: Gameplay und Dokumentation sind einzeln betrachtet etwas halbgar, aber dennoch aufwendig produziert und inszeniert. Ebenso ebnet gerade diese Fusion den Weg zu neuen Möglichkeiten und spannenden Geschichten, die mehr als nur Unterhaltung sind.